Der Verlorene

Bald ist es soweit. Das große Fest ist im Anmarsch.

Viele Kollegen haben Urlaub die Woche. Sie bereiten alles für das Fest vor. Bestellen Fleisch und andere Köstlichkeiten beim Bäcker und Metzger vor. Tannenbäume und Weihnachtsschmuck füllt Wohnungen.

Ich schlendere nach der Arbeit über den Weihnachtsmarkt. Hier ist der Markt seit Sonntag vorbei. Die Abbauarbeiten haben angefangen. Ich beobachte das Ganze etwas wehmütig. Die unzähligen Gerüche und harmonische Stimmung sind verschwunden. Keine Musik, die die Stadtmitte erheitert.

„Es ist schade, dass es bald vorbei ist“, sagt ein Mann neben mir.

Unrasiertes Gesicht und eine sehr abgenutzte Jacke. Einen bedrohlichen Eindruck macht er nicht. Instinktiv entferne ich mich ein paar Schritte von ihm. Er schaut ebenso wehmütig den Abbau des Weihnachtsmarktes an.

„Es kann nicht immer sein. Sonst ist es nichts Besonderes“, sage ich weiterhin misstrauisch.

Der Mann nickt. „Ja wohl wahr. An Weihnachten sind die Menschen aufgeschlossener und mehr bereit zu spenden. Danach hält sich das Mitleid mit anderen häufig in Grenzen.“

„Sie sind obdachlos?“

„Ja“, sagt der Mann niedergeschlagen. „Wenn ich Glück habe, finde ich demnächst eine Unterkunft, um ein paar Wochen die kalte Zeit zu überbrücken.“

„Haben Sie keine Familie?“

„Leider nicht mehr. Sie ist zerstritten. Und jeder von denen hält mich für einen Versager, der selbst Schuld ist an seinem Pech.“

„Gibt es nicht die Möglichkeit zur Versöhnung?“

„Ich wünschte, wir fänden wieder zueinander an Weihnachten, aber das klappt bisher nicht. Zu tief sind die Wunden. Die Zeit heilt zu langsam.“

„Das ist schlimm, wenn man keine Familie hat.“

Der Mann seufzt. „Sie sind ein starker Anker. Darum mag ich Feste wie Weihnachten. Sie können die Familie stabil halten. Geschenke sind der unwichtige Teil. Es geht um Gemeinsamkeit, Unterstützung, Akzeptanz und Toleranz.“

Mir tut der Mann leid. Sein Schmerz ist aufrichtig. Es scheint keine Betrugsmasche zu sein, um mir Geld abzuknöpfen.

„Kann ich … Wenn ich irgendwie helfen kann, dann …“

Der Mann klopft mir auf die Schulter. „Ich weiß mir zu helfen. Danke für das Angebot. Es hat mir gutgetan mit jemanden zu reden, der mir zuhört.“

„Kein Problem.“

„Für viele ist es ein Problem. Die wenigsten Menschen interessieren sich für das Leid der anderen. Ich komme selten in ein Gespräch mit Fremden.“

Ich weiß nicht was ich darauf antworten soll und als ich ihn anschauen möchte, ist er bereits weg. Ich hoffe, dass er die kalte Zeit überlebt und sich nicht verliert.

 

von Jonathan Engert

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