Driving home for Christmas (Teil 2)
von Alizée Korte
Eine weihnachtliche Szene basierend auf
dem Roman “Dein Weg, meine Liebe”
Die Flamme der Kerze knistert, als eine Schneeflocke darauf schmilzt, geht aber nicht aus. Sie flackert nur gerade heftig genug, um Etienne zu bestätigen, dass er das richtige Geschenk ausgesucht hat. Vorsichtig stellt er die Kerze neben sich auf den Boden und zieht die Laterne aus der Tüte. Mit klammen Fingern streicht er über das gebürstete Aluminium und die dünnen Wände. Dort, wo Schneekristalle und Sterne in das Glas geschliffen sind, fühlt es sich rauer an. Er öffnet den winzigen Metallriegel, zieht das Türchen auf und stellt die Kerze hinein. Sofort beruhigt sich die Flamme und warmes Licht strahlt durch das Glas und die sternförmigen Ausstanzungen darüber. Zufrieden beugt er sich vor und stellt die Laterne vor dem Grabstein zwischen die Tannenzweige.
»Joyeux Noël, Maman.«
Er vergräbt die Hände in den Taschen seiner Daunenjacke.
Und nun? Winzige Schneeflocken rieseln über die Szenerie. Sie schmelzen zusammen mit der letzte Illusion von weihnachtlicher Stimmung auf dem Boden und Etienne fragt sich, was ihn geritten hat, Heiligabend am Grab seiner Mutter verbringen zu wollen. Im Grunde war es eine eher beschissene Idee. Genauso gut hätte er die alten VHS-Videokassetten mit seinen Wettkampfaufzeichnungen in Glitzerpapier einwickeln und für sich selbst unter seinen nicht vorhandenen Weihnachtsbaum legen können.
Es ist nicht mehr wie früher.
Es würde nie wieder wie früher sein und eigentlich kommt er ganz gut damit klar. Dass er seit sechs Jahren Heiligabend an das Grab seiner Mutter kommt, heißt nicht, dass er mit der Realität nach dem Unfall nicht zurechtkommt. Oder? Zumal das Ritual anfangs nicht einmal seins gewesen war. Auch seinen Vater, seine Schwester Marie-Lou und die besten Freundinnen seiner Mutter hatte es in den ersten Jahren Heiligabend an Isabelle Jeancours Grab gezogen. Aber irgendwann hatten die Freundinnen beschlossen, dass sie nach dem Auszug des letzten Kindes, lieber über Weihnachten in den Winterurlaub fuhren, und kurz darauf befand Silvia, die neue Freundin seines Vaters, die sich so vollkommen skrupellos in Etiennes Elternhaus einnistete, dass sie »ihren« Peter Heiligabend lieber in der Küche wusste, als am Grab ihrer Vorgängerin. Irgendwann hatte sogar Marie-Lou die gemeinsamen Friedhofsbesuche abgesagt, da sie mit Marc erst später aus Paris anreisen wollte. Die unausgesprochene Pflicht, eine Kerze auf Isabelle Jeancours Grab zu hinterlassen, war folglich an ihm hängengeblieben. Es störte ihn nicht. Immerhin hatte er Marie-Lou abends noch gesehen.
Doch dieses Jahr ist alles anders. Sein Vater ist mit Silvia in die Karibik geflogen und Marie-Lou feiert zum ersten Mal Weihnachten mit Marcs Familie in Schweden.
»Ich dachte, du feierst mit Vika«, hatte sie erschrocken ausgerufen, als er sie Anfang Dezember fragte, ob sie sich in Paris oder in Brüssel treffen würden, und wohl im Geiste schon überlegt, wie sie Marc umstimmen könnte.
»Nur für den Fall, dass es doch nicht klappt«, hatte er sich zu versichern beeilt.
Denn Vika feiert natürlich bei ihren Eltern. Das ist seit vierundzwanzig Jahren so und Etienne ist der Letzte, der sie davon abhalten würde. Natürlich hat sie ihn eingeladen, nein, bekniet hat sie ihn, mitzukommen, und mit wachsender Wut hatte er sich selbst dabei beobachtet, wie er eine fadenscheinige Begründung nach der anderen lieferte, warum es unmöglich war, zu zweit in die Kleinstadt zwischen Hamburg und Bremen zu fahren und dort inmitten der klirrenden Kälte niedersächsischen Flachlandes Weihnachten zu feiern. Spätestens als er behauptete, in der Karateschule zu viel zu tun zu haben, um länger als einen Tag wegbleiben zu können, hatte sie verstanden. Schließlich wusste sie so gut wie er, dass die Karateschule in den Winterferien geschlossen blieb. Toni war nach Kroatien gefahren und wenn Etienne sich in der Zwischenzeit nützlich machen wollte, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Tatami-Matten mit dem Pinsel zu entstauben.
Er sollte bei Vika sein.
Das wird ihm immer klarer, je länger er hier sitzt und den Schneeflocken dabei zusieht, wie sie immer dichter fallen und inzwischen tatsächlich auf der Tannenabdeckung und dem Grabstein liegenbleiben. Er sollte sich in Bewegung setzen, bevor seine Zehen so blau werden wie die Gießkanne von Frau Böhler zwei Gräber weiter.
Zugegeben, Vikas Eltern sind nicht die größten Fans ihrer Beziehung. Schwer zu sagen, ob sie sich mehr davor fürchten, dass er abhängig von ihr oder dass sie abhängig von ihm werden könnte.
Vielleicht sollte er es darauf ankommen lassen, dass ein persönliches Kennenlernen sie umstimmt. Nicht wenige Menschen sind schließlich beeindruckt, wenn sie ihn in Fleisch und Blut erleben. Aber Vika legt Wert auf die Meinung ihrer Eltern. Auch wenn sie es nicht immer zugibt. Wenn ihre Eltern zu dem Ergebnis kommen, dass er nicht der richtige Partner für ihre Tochter ist, kann es dann noch eine Zukunft für sie geben? Oder nur noch eine Zeit des Protests, dem früher oder später Resignation folgt?
In der Ferne läuten Kirchenglocken zum Kindergottesdienst. Etienne erinnert sich, wie Marie-Lou und er früher ausrangiertes Spielzeug auf den Bürgersteigen nahe der Kirche aussetzten. Die Kindergartenkinder würden es finden, wenn sie mit ihren Eltern zum Gottesdienst gingen, und denken, die Figuren aus Lego und Playmobil seien dem Weihnachtsmann vom Schlitten gefallen. Überdeutlich erinnert er sich daran, wie er Marie-Lou zur Eile antrieb, damit sie außer Sicht waren, bevor die Kinder ihren Fund machten. Seine Schwester keuchte und schien ihren pummeligen Körper in Zeitlupe hinter den weißen Atemwölkchen vor ihrem Gesicht herzuschieben, während er die Augen verdrehte und den Laternenmasten im Vorbeijoggen ein paar abgeschwächte Kicks verpasste.
Über dem Friedhof dämmert es. Hier und da brennen Grablichter auf den mit Tannenzweigen abgedeckten Gräbern. Kein lebendiger Mensch ist mehr hier. Etienne zittert vor Kälte.
Er sollte verschwinden. Aber wohin?
»Que ferais-tu?«, fragt er seine Mutter. Was würdest du tun?
Bevor er aus der Bewegung der Flamme im Schutz der Laterne, dem Wind in den kahlen Ästen der Kastanie oder dem Fall der Schneeflocken etwas herauslesen und als Antwort einer Toten interpretieren kann, spürt er ein Vibrieren an seiner Brust. Ein Anruf. Er zieht das Smartphone aus der Innentasche seiner Jacke und seufzt beim Blick auf das Display. Er hat nicht wirklich damit gerechnet, dass sie ihn in Ruhe lässt. Nicht in dieser Stimmung.
»Hey, Vic.«
»Hey.« In der einen Silbe schwingt so viel Erleichterung, dass er ans Telefon gegangen ist, und gleichzeitig so viel Sehnsucht, dass er schlucken muss.
»Was machst du?«, fragt sie, weit entfernt, unbekümmert zu klingen.
»Rumsitzen.«
»Klar.« Sie wartet einen Moment, in dem Etienne schweigend seine Wortkargheit verflucht, und fasst dann nach. »Wo?«
»Bei meiner Mutter.«
Sie seufzt. »Auf dem Friedhof. Wie lange schon?«
Er zuckt die Achseln und schweigt in die Leitung. Jedes Wort wäre lächerlich. Genauso wie seine Entscheidung, hier zu sein. Wie lange wollte er hier sitzen? Bis er festfriert?
»Du solltest herkommen. Meine Mutter macht Gänsekeulen mit Rotkohl und Klößen. Sie hat sowieso vier gekauft, weil sie dachte, vielleicht würdest du doch mitkommen. Es macht keine Umstände, die vierte aufzutauen, und dann können wir alle zusammen essen, Wein trinken und Weihnachten genießen.«
»Deine Eltern wünschen sich einen anderen Mann an deiner Seite.«
»Im Moment wünschen sie sich den Mann an meine Seite, den ich schon den ganzen Tag vermisse.«
Etienne fühlt seinen Widerstand bröckeln.
»Hast du mein Geschenk ausgepackt?«, fragt er.
»Nein. Und ich werde es erst auspacken, wenn du hier bist.«
»Ich werde mindestens drei Stunden brauchen.«
»Macht nichts. Ich werde warten.«
Plötzlich muss er lachen. »Du gibst nicht auf, was?«
»Du doch auch nicht.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch. Fahr vorsichtig.«
»Verlass dich drauf.«
Die Autobahn ist so leer wie der Nürburgring nach Mitternacht. Etienne muss sich zwingen, sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten, aber Radarfallen feiern kein Weihnachten und seinen Führerschein braucht er so dringend wie sein Handy. Nach zwei Dritteln der Strecke beschließt er, sicherheitshalber die nächste Tankstelle anzufahren und ist überrascht, dass sie tatsächlich geöffnet hat. Der junge, bärtige Typ im Tankstellenshop schaut sich das Video einer türkischen Talentshow auf dem Tablet an, kassiert wortkarg und seufzt genervt, als Etienne spontan beschließt, von seinem Wechselgeld noch einen Schokoriegel zu kaufen.
Der riesige Parkplatz ist so gut wie leer, nur weiter hinten parken ein paar Lkws mit ausländischen Kennzeichen. Etienne hält den Citroën im Lichtkegel einer Straßenlaterne, ziemlich genau in der Mitte einer Reihe von knapp dreißig, allesamt leeren Parkplätzen, stellt den Motor ab und reißt die Verpackung des Schokoriegels auf. Selbst wenn er heute noch Gänsekeule bekommt, braucht er jetzt einen Energieschub. Er versucht sich Vikas Eltern vorzustellen. Was werden sie sagen? Was wird er sagen? Er sollte locker sein, gut drauf und unbeschwert. Schließlich kommt er am besten an, wenn er gut gelaunt ist. Allerdings hat ihm das bei Bewerbungsgesprächen um die Position des künftigen Schwiegersohns nichts gebracht. Nicht in den vergangenen sechs Jahren. Sandrines Eltern hatten ihr Beziehungsrevival für eine freundschaftliche Posse gehalten und sich kein bisschen darüber gewundert, als auch der zweite Versuch scheiterte, und Nadias Mutter hatte Etienne so eindringlich zu seiner Lebenserwartung befragt, dass er sich am Ende nicht mehr sicher gewesen war, den nächsten Tag zu erleben. Missmutig lässt er das Fenster auf der Fahrerseite hinunter und atmet das Gemisch aus kalter Winterluft und aufgeheiztem Autoreisemief. Es ist sinnlos, sich etwas vorzumachen. Die Chancen, dass aller guten Dinge drei sind und ausgerechnet Vikas überbesorgte Eltern ihn mit offenen Armen empfangen werden, stehen schlecht.
Im Rückspiegel sieht er Scheinwerfer aufleuchten, wieder verschwinden und wieder aufleuchten. Im nächsten Moment rollt ein in die Jahre gekommener roter Nissan auf den Stellplatz links neben ihm. Durch die geschlossenen Scheiben hört er Chris Rea singen: »Driving home for Christmas«. Die Fahrerin ist allein im Auto. Von seinem Platz aus erkennt Etienne wirre Haare und eine große Nase. Als die letzte Strophe gesungen ist, reißt die Frau den Schlüssel aus dem Zündschloss. Der Motor erstirbt mit der Musik, doch die Ruhe währt keine Sekunde. Die Fahrertür fliegt auf, die Frau steigt aus, eine Zigarette zwischen den Lippen. Unbarmherzig fegt ihr der Wind die schlecht blondierten, von grauen Strähnen durchzogenen Strähnen aus dem Gesicht, offenbart verschmiertes Make-up und eine Spur von Tränen auf ihrer faltigen Wange. Etienne sieht ihr zu, wie sie sich mit dem Rücken gegen den Wind dreht, um ihre Zigarette anzuzünden, und beschließt, sich mit seinem letzten Bissen Zeit zu lassen. Die Frau trägt einen langen, schwarzen Anorak mit verfilztem Kunstfellbesatz an der Kapuze, eine enge, dunkelgraue Jeans mit Glitzerapplikation am rechten Oberschenkel und schwarze Overknee-Stiefel mit hohen Absätzen, die auf dem Pflaster klappern, als sie im Schein der Straßenlaterne auf und ab geht. Sie nimmt zwei, drei Züge von der Zigarette, zieht den Rauch tief in ihre Lunge und sieht mit in den Nacken gelegtem Kopf dabei zu, wie der Wind ihn von ihren Lippen streicht. Mit der freien Hand fährt sie sich über das Gesicht, verreibt Tränen und Make-up-Spuren, zieht die Nase hoch und sieht Etienne durch das offene Autofenster an.
»Und du? Driving home for Christmas oder überlegst du noch, ob du wieder umkehrst?«
Ihre Stimme klingt rau, wahrscheinlich von zu vielen Zigaretten, vielleicht auch zu viel Alkohol, sicherlich zu viel Schicksal.
»Bis eben nicht«, antwortet er wahrheitsgemäß.
»Warum steht man sonst Heiligabend auf einer verdammten Autobahnraststätte herum?«
»Um einen Schokoriegel zu essen?« Er schiebt sich das letzte Stück in den Mund und zerknüllt das Papier in der Hand, bevor er es im Abfallfach der Mittelkonsole verschwinden lässt.
»Das kann man auch während der Fahrt.«
»Ich nicht. Ich brauche beide Hände am Steuer.«
Sie ignoriert seine Worte, kommt aber näher und lehnt sich direkt neben ihm an die Beifahrertür ihres Nissans.
»Meine Tochter hat mich eingeladen, aber ich weiß nicht, ob ich es wirklich schaffe, hinzufahren und an ihrer Tür zu klingeln.«
»Immerhin hat deine Tochter noch eine Mutter.«
»Eine Mutter, die sie zehn Jahre nicht gesehen hat.« Aus seinem Blickwinkel sieht er, wie die faltige Hand die Zigarette noch einmal zum Mund führt, hört das Knistern der Glut, als sie daran zieht und etwas später ihr energisches Ausatmen, bevor sie weiterspricht. »Ich habe Fehler gemacht. Ich bin ein Fehler. Der Fehler in ihrem Leben.«
»Aber sie will dich Weihnachten bei sich haben.«
»Was, wenn sie es bereut?«
»Was, wenn du bereust, ihre Einladung ausgeschlagen zu haben?«
Eine Pause entsteht. Etienne sieht aus dem Augenwinkel ihr Bein mit den Glitzersteinen wippen. »Sie hat ein Kind. Ein Mädchen, acht Jahre. Ich werde ihnen sagen müssen, dass ich krank bin. Dass ich vielleicht nicht mehr lange da sein werde.«
»Umso wichtiger, dass ihr euch aussprecht.«
»Ich weiß nicht, ob sie mir verzeihen kann. Die verlorenen Jahre lassen sich nicht zurückholen. Ich habe mir eingeredet, es ist zu ihrem Besten, wenn sie sich nicht mit meinem Scheiß befassen muss.«
Sie schnippt den glimmenden Zigarettenstummel von sich und Etienne sieht zu, wie der Wind die Kippe über den nassen Asphalt trudeln lässt, bis sie in einer Pfütze liegenbleibt und verlischt.
»Vielleicht solltet ihr beide nicht zu viel erwarten, sondern einfach genießen, dass ihr euch seht.«
Die Frau stampft abwechselnd mit den Füßen auf und schiebt beide Hände tiefer in die Manteltaschen.
»Und was hast du noch vor?« Bildet er es sich nur ein oder schwingt in ihrer Stimme das unausgesprochene Angebot, den Rest des Abends gemeinsam fortzusetzen? Unwillkürlich muss er lächeln.
»Meine Freundin bei ihren Eltern treffen.«
Sie stößt ein trockenes Lachen aus, das in Husten übergeht. »Ist doch super. Wovor hast du Angst?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich Angst habe.«
»Pft.« Sie tritt wieder von einem Fuß auf den anderen und reibt sich, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, über die Hüften.
»Okay, « gibt er zu. »Ich kenne ihre Eltern noch nicht und wenn sie mich nicht mögen, wird das für meine Freundin kein schönes Weihnachten. Auch wenn sie behauptet, es sei ihr egal.«
»Ha! Wer sollte dich nicht mögen?«
»Menschen, die in erster Linie Defizite sehen.«
Er fragt sich, ob sie aus ihrer Position auf seinen Beifahrersitz sehen kann.
»Vielleicht solltest ihr beide nicht zu viel erwarten, sondern einfach genießen, dass ihr zusammen seid?«
Plötzlich müssen sie beide lachen. »Ja, wahrscheinlich sollten wir das«, räumt Etienne ein. »Irgendwie ist es einfacher, fremden Leuten Ratschläge zu geben, als sich selbst vom Naheliegenden zu überzeugen, oder?«
Falls sie nickt, sieht er es nicht.
»Also fährst du nicht wieder zurück?«
»Natürlich nicht. Es gibt kein Zurück. Nie.«
»Ich fahre auch. Ich ziehe es durch.«
Mit einem Seufzer stößt sie sich von ihrem Auto ab und Etienne stützt sich mit dem Arm im offenen Fenster ab, um jetzt doch zu ihr aufzusehen. In die Gesichtszüge unter den zu langen Ponyfransen haben sich die enttäuschten Hoffnungen vergangener Jahrzehnte gegraben, aber in ihren Augen schimmert ein neuer, warmer Glanz.
»Dann mal gute Fahrt«, wünscht Etienne. »Und frohe Weihnachten!«
»Gleichfalls«, sagt sie mit einem Lächeln, das eine Lieblichkeit offenbart, die in seltsamem Kontrast zu ihren Jahren steht. Er sieht ihr nach, wie sie in ihr Auto steigt, den Motor anlässt und mit einem Winken und dem neu gestarteten Chris Rea über den leeren Parkplatz davonbraust.
Das Leben wäre so viel einfacher, gelänge es uns doch nur, weniger zu erwarten, weniger zu hoffen und bedingungsloser zu lieben, was wir haben.
Als er sein Ziel erreicht, läuten auch hier die Kirchenglocken und es fühlt sich nicht so an, als hätte er in den vergangenen Stunden über dreihundert Kilometer zurückgelegt. Nur Schnee ist hier im Norden reichlicher vorhanden als im Westen der Republik. Dicht liegt er auf Dächern, Bäumen und Hecken und lässt ganze Vorgärten unter seiner glitzernden Decke verschwinden. Sogar den Gartenzäunen hat er weiße Mützen aufgesetzt. Die letzten Meter der Sackgasse fährt Etienne im Schritttempo bis vor das Haus mit der Nummer zwölf. Rollsplitt knirscht unter seinen Reifen, als er in die nächstgelegene Parklücke direkt am Bordstein einschert. Von hier sind es nur vier Meter über den Bürgersteig und noch einmal so viel von der Gartenpforte bis zur Haustür. Eine Stufe, aber die ist machbar. Er öffnet die Autotür und hebt erst den Metallrahmen, dann die Räder vom Beifahrersitz nach draußen, wo er mit geübten Griffen seinen Rollstuhl zusammenbaut, sorgfältig darauf bedacht, dass er ihm auf dem gefrorenen Untergrund nicht wegrutscht oder davonrollt. Dann setzt er über und beugt sich nur noch einmal ins Auto, um seine Jacke zu holen.
Vorsichtig manövriert er über den vereisten Bürgersteig zur geöffneten Gartenpforte, wo er kurz innehält. In dem Fenster neben der Haustür leuchtet ein weißgoldener Weihnachtsstern. Weiß und Gold geschmückt ist auch der Tannenkranz an der dunklen Massivholzhaustür. Auf dem überdachten Absatz davor stehen drei Laternen in unterschiedlichen Größen, in denen jeweils eine dicke, weiße Kerze brennt. Die mittlere sieht ähnlich aus wie die, die er heute Nachmittag auf dem Grab seiner Mutter zurückgelassen hat. Neben den Laternen liegt eine Fußmatte aus Kokosfasern. Selbst aus der Entfernung erkennt Etienne den Aufdruck einer winkenden Comic-Katze neben dem Wort »Welcome« in einer Sprechblase. Es ist immer noch möglich, dass dies alles nicht ihm gilt. Dass die Vorbehalte gegen einen potenziellen Schwiegersohn mit Behinderung größer sind als weihnachtliche Gastfreundschaft. Dass auch diese Menschen seinen Wunsch nach einer heilen, liebevollen Familie, deren Teil er sein darf, nicht erfüllen werden. Aber immerhin erlauben sie ihm, hier zu sein. Er darf Weihnachten mit seiner Liebsten verbringen. Die Größe dieses Geschenks wird ihm mit jedem Zentimeter bewusster, den er sich über die bogenförmig angeordneten Pflastersteine Richtung Haustür bewegt. Der Weg ist frei von Schnee und sorgfältig mit Sand gestreut. Vor der Stufe kippt Etienne den Rollstuhl auf die Hinterräder, rollt so weit vorwärts, dass die kleinen Lenkräder oben auf dem Absatz stehen und zieht sich mit einer Hand am Türknauf, mit der anderen am Greifrad, nach oben. Auf der Kokosmatte rollt er ein paar Mal hin und her, um den Sand aus den Profilen zu bekommen. Von drinnen dringt Klaviermusik an sein Ohr. Eine Frau singt »Vom Himmel hoch«. Es ist nicht Vika. Einen schmerzvollen Augenblick lang presst ihm die Erinnerung an seine Mutter den Brustkorb zusammen und er kann nichts anderes tun, als still zu warten bis das Lied zu Ende ist.
Dann atmet er tief durch und drückt auf den Klingelknopf.