Von Adventspleiten und Weihnachtswundern – ein modernes Märchen (Teil eins)

von Barbara Innes

basierend auf ihrem Roman „Fernbus ins Glück – nächster Halt: Liebe“

 

 

In den kalten dunklen Wintertagen schien die Heidelberger Innenstadt wie eine Arche des Lebens und der Freude zu leuchten. Der über die ganze Stadt verstreute Weihnachtsmarkt verströmte Düfte nach Pfefferkuchen und Glühwein, Studenten lachten und wärmten sich gegenseitig, wenn sie nach einer Runde auf der Eisbahn, die man jährlich auf dem Marktplatz aufbaute, mit roten Wangen und strahlenden Gesichtern zurückkamen, Touristen bestaunten die Stände mit Kunsthandwerk, selbstgezogenen Kerzen und liebevoll geschnitzten Krippenfiguren, und selbst Claire spürte, wie ein Teil ihrer inneren Anspannung zumindest für einen Moment von ihr abfiel.

Sie wusste wieder einmal nicht, wie sie ihre Wohnung weiter abbezahlen sollte – ihr neues Buch hatte immer noch keinen Verleger gefunden –, aber als sie Hand in Hand mit Marek durch die glitzernde Weihnachtslandschaft schlenderte, spürte sie endlich wieder dieses tiefe Glücksgefühl, mit ihrem Geliebten in dieser wunderbaren Stadt wohnen zu dürfen. Marek schien es ähnlich zu gehen, denn als sie an einem Bratwurststand Halt machten, drehte sich der Tscheche zu ihr um, strich ihr mit einer behandschuhten Hand sanft über die Wange und sagte lächelnd:

„Du hattest Recht – Heidelberg an Weihnachten ist wirklich etwas Besonderes. Nicht, dass es letztes Jahr in Prag nicht auch wunderschön gewesen wäre, aber hier ist es irgendwie intimer, irgendwie kann ich hier die Weihnachtsstimmung noch mehr spüren. So wie in deinem Gedicht.“

Claire wurde rot. Aus einem Überschwang an Gefühlen hatte sie in der letzten Nacht eine kleine Ballade mit dem Titel „Nie mehr ohne dich“ verfasst, in der es darum ging, dass an Weihnachten nichts zählte, außer mit dem Menschen zusammen zu sein, der einem das Wichtigste auf der Welt war. Kitschig, ja klar, aber manchmal musste man einfach vor dem tristen Alltag mit seinen Sorgen in eine bessere Welt entfliehen, und das konnten sie beide auf ihre Weise richtig gut: Sie mit dem Schreiben und er mit seiner Musik.

Beschwingt vom hausgemachten Glühwein hatte Marek gleich ein paar Töne auf seinem geliebten roten E-Piano angeschlagen und ihrem Gedicht eine Melodie verliehen. Seit er von ihrem Untermieter erst zu ihrem Vertrauten und dann zu ihrem Gefährten geworden war, verbrachten sie viele Abende auf diese Weise, inspirierten sich gegenseitig, alberten mit Worten und Tönen herum, träumten davon, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie nur endlich den großen Durchbruch schaffen würden. Leider sah die Wirklichkeit anders aus. Marek hatte kaum genug Auftritte, um seine Miete zu bezahlen, und an Heiligabend würde es wohl wie so oft „irgendetwas mit Linsen“ geben, da sie sich kein extravagantes Essen leisten konnten – und ganz sicher keine Lust hatten, sich am Fest der Liebe von Claires konservativen Eltern Vorhaltungen zu ihrem verfehlten Lebenswandel machen zu lassen.

Sie teilten sich mit großem Appetit einen halben Meter Bratwurst mit extra viel Senf und Ketchup und beschlossen dann, nach Hause zu laufen, um den ersten Advent in Ruhe bei Kerzenschein ausklingen zu lassen.

Am nächsten Tag waren sie bei Timo und Noemi zum Essen eingeladen. Timo, ein leidenschaftlicher Jazz-Trompeter, war seit Jahren Claires Agent und bester Freund. Durch seine Band, in der Marek Klavier spielte, hatten sich die beiden kennengelernt. Zeitgleich waren auch Noemi, eine Sängerin mit afrikanischen Wurzeln und imposanter Statur, und der zierliche Timo ein Paar geworden. So absurd die beiden zusammen aussahen, schien ihre Phase der rosaroten Verliebtheit auch nach über zwei Jahren kein Ende nehmen zu wollen. Während Noemi die Teller auftrug und Timo Wein einschenkte und den Adventskranz anzündete, fanden sie immer wieder einen Grund, sich zärtlich an den Händen zu berühren oder wie Teenager verstohlene Blicke zu tauschen. Claire und Marek, die sich brav gegenüber saßen, versuchten, keine Miene zu verziehen und sprachen stattdessen über ihre neuen Projekte.

„Hast du das Exposé überarbeitet, wie ich es vorgeschlagen habe?“, fragte Timo, der die Situation der beiden genau kannte, mit besorgter Miene. Er und Noemi kämpften zwar auch um Aufträge und Gigs, hatten bisher jedoch deutlich mehr Glück gehabt.

„Natürlich. Ich wollte aber, dass du es dir erst noch einmal ansiehst, bevor ich es abschicke“, sagte Claire und zog ihr edles MacBook hervor, das sie sich in einem Anfall von Optimismus gekauft hatte, als sie und Timo noch glaubten, ihr letztes Buch würde verfilmt werden. Da ihre Laptoptasche nur noch aus Fetzen bestand, trug sie den Computer in einen Schal gewickelt in einer Einkaufstasche mit sich herum, wie Timo kopfschüttelnd feststellte. Professionelle Autoren sahen  anders aus – das würde in keinem Verlag einen guten Eindruck machen. Doch immerhin war die Zusammenfassung ihres neuen Romans richtig knackig und spannend geworden, vielleicht würde er ja im neuen Jahr endlich einen Verlag finden, der die Geschichte drucken wollte.

 

Während sich Claire und ihr Agent mit dem Text beschäftigten, baute Marek sein Keyboard in dem kleinen Wohnzimmer auf. Noemi sang ein paar Standards zum Warmwerden, dann improvisierten die beiden eine Weile. Doch plötzlich verzog Noemi leicht genervt das Gesicht.

„Was ist denn mit deinem Verstärker los? Das kracht und schrammelt ja, dass ich eine Gänsehaut kriege!“

Marek hob verlegen die Schultern. „Sorry, das Teil ist schon ziemlich alt und ganz schön viel herumgekommen. Ich habe es schon mehrmals repariert, aber jetzt ist wohl Ende der Fahnenstange.“

Noemi grummelte etwas in sich hinein, riss sich dann aber zusammen und fragte Marek, ob er denn etwas Neues komponiert habe.

„Nichts, was für eine Sängerin interessant wäre. Außer vielleicht…“

Er grinste und zog mit einem verstohlenen Seitenblick auf Claire den Zettel hervor, auf dem sie ihr Weihnachtsgedicht notiert hatte.

„Schau mal, das hat meine Dichterin gestern im Glühweinrausch verfasst. Und ich habe ein paar Akkorde dazu geklimpert, vielleicht willst du es ja mal ausprobieren?“

„Gerne, aber so eine Premiere ist für diesen Verstärker zu schade.“ Blitzschnell zog die Sängerin einen USB-Stick aus der Tasche ihres senfgelben knöchellangen Rocks und steckte ihn in den passenden Eingang des Keyboards.

„Spiel mir doch schnell Melodie und Begleitung da drauf, dann können wir es beim nächsten Gig singen, wenn wir ein anständiges Soundsystem zur Verfügung haben.“

Marek fühlte sich ein wenig gekränkt, musste aber zugeben, dass Noemi Recht hatte. Zuhause übte er fast nur noch mit Kopfhörern, weil auch er das Krachen des Verstärkers nicht mehr ertrug, dass sich immer einstellte, wenn die Spulen warmgelaufen waren.

Also machte er eine Aufnahme für Noemi und reichte ihr dann den Stick und den Zettel.

„Viel Spaß damit. Wenn ich jetzt also schon nicht mehr spielen darf, habt ihr mir doch hoffentlich noch etwas Wein übrig gelassen?“

Die Sängerin lächelte gutmütig und reichte ihm ein großzügig gefülltes Glas.

„Na klar! Dann lasst uns mal anstoßen – auf eine wunderbare Weihnachtszeit!“

Die Gläser klirrten und in den Augen der vier Freunde spiegelte sich der Kerzenschein.

Wie schön wäre es, wenn wir in dieser Zeit des Jahres wirklich nur an unsere Lieben denken könnten, und nicht an so profanen Kram wie Hypotheken und Verträge, dachte Claire.

Immerhin wusste sie jetzt, was sie Marek zu Weihnachten schenken wollte. Nein, nicht wollte, musste.

Dafür würde sie ein ziemliches Opfer bringen müssen, aber das war ihr egal.

Stattdessen empfand sie bereits eine kribblige Vorfreude, wenn sie daran dachte, wie Mareks Augen leuchten würden, wenn er an Heiligabend seinen brandneuen Verstärker auspacken und ausprobieren würde. Wenn seine wunderbaren Melodien endlich wieder rein und unverfälscht durch ihre kleine Wohnung klingen würden.

Ja, das wäre für sie beide das perfekte Weihnachtsfest.

Claire lächelte glücklich. Und sie sollte Recht behalten: Dieser Tag sollte wirklich unvergesslich werden…

 

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Wie die Geschichte endet, erfahrt ihr natürlich an Heiligabend! Am 24.12. erscheint der 2. Teil dieses Heidelberger Weihnachtsmärchens.

Wer wissen willen, wie Claire und Marek nach vielen Irrungen und Wirrungen zusammen gekommen sind, findet hier den Roman, auf dem diese Geschichte basiert:

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